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 DIVERSE: LAUT yodeln Vol. 2: fern-nah-weit
DIVERSE
LAUT yodeln Vol. 2: fern-nah-weit
(Trikont)


Holleri-du-dödel-di. Wer in den späten 1960er-/frühen 1970er-Jahren Fan zeittypischer Rockmusik war, kam dort wohl nur einmal mit dem Jodeln in Berührung. Auf „Hocus Pocus“ der niederländischen Progrocker Focus jodelte Organist/Flötist Thijs van Leer sich 1971 die Kehle aus dem Leib. Hierzulande gab es zeitgleich stattdessen Franzl Lang, der seine phänomenale Kunst leider bevorzugt im Kontext läppischer Liedchen präsentierte. Versöhnt mit der alpinen Kehlkopfartistik wurde der alternde Rockfan dann in den 1990ern durch die Werke von Frau Kapfinger und Herrn Achleitner. Dass die Kunst des Jodelns vielschichtiger sein kann, weiß man heute, nicht zuletzt durch die feinen Veranstaltungen des Münchner Kulturreferats in Zusammenarbeit mit der Plattenfirma Trikont. So fand 2019 – nach dem großen Erfolg der ersten Festivals 2016 – die zweite Auflage von LAUTyodeln statt. Mit Musikern und Musikerinnen aus D/A/CH, Italien, Bosnien und den USA deckte man die ganze Bandbreite von Tradition ab, über im Stil von Jimmie Rodgers vorgetragenen Country und Bluegrass bis hin zur Avantgarde. Die CD dokumentiert das Festival aufs Trefflichste und ist wärmstens zu empfehlen, auch für Menschen ohne Jodeldiplom.
Walter Bast



Afrika
 DIVERSE: Alefa Madagascar! Salegy, Soukous & Soul From The Red Island
DIVERSE
Alefa Madagascar! Salegy, Soukous & Soul From The Red Island
(Strut)


Anfang der 1990er-Jahre hatten sich die US-Promi-Gitarristen Henry Kaiser und David Lindley auf eine musikalische Expedition begeben. Sie hatten Madagaskar, die „Rote Insel“ im Indischen Ozean, zum Ziel – seinerzeit noch ein wahrlich weißer Fleck des sogenannten „Weltmusik“-Genres. Mit zwei CD-Kompilationen (A World Out Of Time), die die seinerzeit aktuelle madagassische Szene dokumentierten, ebneten sie Bands wie etwa Tarika oder dem Ny Malagasy Orkestra den Weg für Konzerte weltweit, aber die Vorgeschichte blieb weiter im Dunkeln. Dem leistet Strut Records nunmehr verdienstvolle Abhilfe. Aus den Archiven wurden achtzehn mehr oder weniger repräsentative Aufnahmen hervorgeholt, die zwischen den Jahren 1974 und 1984 entstanden. Die Namen der vertretenen Ensembles und Künstler sind wohl vergessen und international unbekannt geblieben – was aber zweitrangig ist. Die Auswahl ist auf jeden Fall spannend und die Vielfalt der Stile und Sounds faszinierend. Hier treffen einheimische Tanzmusik wie der flotte Salegy mit anderen tanzbaren Stilen des afrikanischen Kontinentes, unter anderem dem kongolesischen Soukous, aber auch Soul und Funk zusammen. Heraus kommen groovige, bisweilen natürlich leicht angestaubte, aber stets hörenswerte Mixturen.
Roland Schmitt
 SOUAD MASSI: Oumniya
SOUAD MASSI
Oumniya
(Naive), mit franz. Infos


Vier Jahre hat sich Souad Massi Zeit gelassen für ihr sechstes Album. Beim ersten Hören mag man sich fragen, warum, denn es klingt gar nicht sehr anders als die vorigen. Doch häufigeres Lauschen macht klar, diese zehn Stücke sind handverlesen, die Arrangements so minimalistisch und gleichzeitig effektvoll und ergreifend, so etwas muss erst mal reifen. Die algerische Sängerin und Gitarristin mit Faible fürs Fingerpicking hat auf Oumniya („Mein Wunsch“) Mehdi Dalil (Mondol, Gitarre), Mokrane Adiani (Geige), Rabah Khalfa (Darbuka) und Adriano dos Santos Tenorio (Percussion) um sich geschart, um ihre Mischung aus Folk und Chaâbi vorzutragen und dabei auch schon mal Ausflüge Richtung Reggae, Fado und Latin zu machen. Die Texte sind auch dieses Mal recht politisch. Es geht unter anderem um den Zustand Algeriens fast fünfzig Jahre nach der Unabhängigkeit sowie um die Rechte von Frauen. Massi beklagt, wie wenig bislang erreicht ist, dass immer noch Mädchen zwangsverheiratet und dabei auch daran gehindert werden, sich Bildung anzueignen. Das humanistische Engagement geht unter die Haut – jenseits aller Sprachbarrieren.
Ines Körver

Nordamerika
 GEOFF BERNER: Grand Hotel Cosmopolis
GEOFF BERNER
Grand Hotel Cosmopolis
(COAX Europa), mit engl. u. jidd. Infos u. Texten


Für viele Beobachter der Klezmerszene gilt der in Kanada geborene Sänger, Komponist, Romanautor und gleichzeitig politische Aktivist Geoff Berner als Begründer des Klezmerpunks, einer Synthese traditioneller Volksmusik osteuropäischer Juden mit aggressiv-musikalischer Energie und intelligenten, politische Themen beinhaltenden, meist kontroversen Texten. Sein bislang zehntes Album wurde vom real existierenden Grandhotel Cosmopolis in Augsburg inspiriert. Vor zehn Jahren gegründet, übernahm eine Gruppe von Aktivisten ein verlassenes Schulgebäude. Ihre Vision war es, eine künstlerische, preiswerte Herberge für Reisende aller Art sowie eine sichere und freie Unterkunft für Flüchtlinge und Asylsuchende zu schaffen, so auch besungen im sechsten Stück: „The nationalists wish that we didn’t exist.“ Bezeichnend auch das einführende Lied, in dem Berner die Reaktion mancher Menschen beschreibt: So wie er sei, hätte man sich einen Juden gar nicht vorgestellt. Allen Texten fügt Berner eine erklärende Hintergrundgeschichte an. Ausgezeichnet ebenfalls die musikalische Begleitung, unter anderem mit Diona Davies (v), Wayne Adams (perc), Paul Rigby (g) oder Josh „Socalled“ Dolgin (p).
Matti Goldschmidt
 ANNIE GALLUP: Bookish
ANNIE GALLUP
Bookish
(Flyaway Hair Records)


Borreliose verhindert, dass Annie Gallup noch auf Tournee gehen kann. So bleibt viel Zeit, um Songs zu schreiben, was vielleicht eine Erklärung für ihre zahlreichen Veröffentlichungen der vergangenen Jahre ist. Neben ihrem Duo Hat Check Girl, das sie zusammen mit ihrem Partner Peter Gallway betreibt, erscheinen in regelmäßiger Folge Alben unter ihrem eigenen Namen, wobei durch den eindringlichen Vorgänger Lucy Remembers Her Father die Erwartungen sehr hoch lagen. Auf Bookish verzichtet sie nun ganz auf jeglichen produktionstechnischen Schnickschnack. Es gibt einfach nur Annie Gallup und ihre halbakustische Gitarre, aufgenommen in den eigenen vier Wänden. Das Ganze klingt zwar intim und in sich gekehrt, ist jedoch kein Album voller Offenbarungen und Selbsterklärungen. Vielmehr klingt Gallup auf Bookish wie eine Singer/Songwriterin aus den Fünfzigerjahren, mit einem leicht jazzigen Touch, der ihren Songs etwas betont Antimodernes verleiht. Musik, zu der man bei Kerzenschein in Büchern schmökert.
Michael Freerix

 JAKE LA BOTZ: They’re Coming For Me
JAKE LA BOTZ
They’re Coming For Me
(Hi-Style Records)


Form follows function. Jake La Botz hat sich ein großartiges Album gebaut, indem er diesem Gebot für besonders wertvolle Architektur folgt. Denn der Songwriter aus Chicago ist Schauspieler, und die Musik für die skurrilen Geschichten seiner Antihelden legt er als aufwendige Kulissen an. In „Bigfoot“ (mit Prince-Sample!) beschreibt er aus der Perspektive des Fabelwesens die Mühen, sich in der schnelllebigen Medienwelt in den News zu halten, wo doch der teuflische Präsident so viel Aufmerksamkeit absaugt. In „Bankrobber’s Lament“ geht ein Überfall gewaltig schief. Treffend formuliert La Botz in seinem Abgesang auf Nashville, was ihm dort gespiegelt wurde: „You’re not country, you’re not rock ’n’ roll, too arty for the blues, too dark for folk, your pop songs are really a joke.“ Für die auf den Punkt gespielte Instrumentierung sorgen Leute aus dem Umfeld von JD McPherson und NRBQ. Dank der zeitgemäßen Produktion bringt einen das mal in burleske Tom-Waits-Stimmung, mal klingt es nach Green On Red, wie in „Without The Weight“, dem emotionalen Highlight dieses richtig starken Albums.
Martin Wimmer
 CATHERINE MacLELLAN: Coyote
CATHERINE MacLELLAN
Coyote
(Eigenverlag)


In Kanada genießt sie den Ruf einer Meisterin der Melancholie. Auf ihrem siebten Album wird die poetische Singer/Songwriterin dem erneut gerecht. Nach dem Ausflug in die Musik ihres berühmten Vaters Gene mit dem gefeierten Coveralbum If It’s Alright With You meldet sich die 39-Jährige eindrucksvoll mit vierzehn eigenen Songs zurück. Sie knüpft damit nahtlos an den Vorgänger Raven’s Sun von 2015 an, für den sie die höchste kanadische Musikauszeichnung, den Juno Award erhielt. „Fast die Hälfte der Lieder auf Coyote handeln vom Ende meiner langjährigen Beziehung“, erläutert MacLellan ihre Roots- und Folk-inspirierten Kompositionen. Doch trotz aller melancholischer Stimmungen verbreitet das Album eine große Lebensfreude und die Hoffnung, dass sich Situationen ins Gute verwandeln. MacLellan hat das mit ihrem Umzug auf Prince Edward Island selbst erfahren. Die neuen Songs hat die Gitarristin dort im eigenen Farmstudio aufgenommen. Die Arrangements sind diesmal stärker von den traditionellen Ostküsteninstrumenten Akkordeon, Fiddle oder Bouzouki geprägt, wie etwa auf dem exzellenten „The Tempest“, das den gefährlichen Alltag der Fischer auf dem Atlantik besingt. Ein wunderbares Album zum Reflektieren in der dunklen Jahreszeit.
Erik Prochnow

 NATALIE MacMASTER: Sketches
NATALIE MacMASTER
Sketches
(Linus Entertainment)


Man kann sie „Canada’s Queen of the Fiddle“ nennen, wie das die Plattenfirma macht. Annähernd gerecht wird ihr das nicht, zu allumfassend ist der Einfluss Natalie MacMasters. Von Cape Breton Island aus hat sie in den letzten Jahrzehnten nicht nur die Fiddlemusik in den atlantischen Provinzen geprägt, aber diese ganz besonders (s. a. Artikel über Prince Edward Island in diesem Heft, S. 34-38). Ihr erstes Soloalbum seit acht Jahren ist die gewohnte instrumentelle Mischung aus unglaublicher Rasanz und tiefem Gefühl, ganz gleich ob traditionell oder selbst geschrieben. Wichtigster Kollaborateur ist der Engländer Tim Edey mit Gitarre und Akkordeon. Viel interessanter jedoch ist, was in diese Produktion eingeflossen ist. 47 Jahre alt, seit 37 Jahren Fiddlerin, seit 16 Jahren verheiratet (mit Donnell Leahy, einem Fiddler!) und seit 13 Jahren Mutter – und das von sieben Kindern, die sie zu Hause unterrichtet, denn sie hat einen Abschluss als Lehrerin. All das – und natürlich die Musik! – lässt den Respekt vor dieser Frau fast ins Unermessliche wachsen. Kein Freund und keine Freundin der Fiddlemusik sollte freiwillig auf diese CD verzichten.
Mike Kamp
 JIM PATTON & SHERRY BROKUS: Collection 2008-2018
JIM PATTON & SHERRY BROKUS
Collection 2008-2018
(Berkalin Records)


Vierzig Jahre stehen Patton und Brokus bereits gemeinsam auf der Bühne, doch lag ihr Fokus in früheren Zeiten eher darauf, die Songs von Patton im Bandkontext einzuspielen. Das änderte sich 2008, als ein Fan nach einem Duo-Gig die beiden fragte, ob sie nicht doch mal genau so was als Album herausbringen könnten. Und das ist seither immer wieder geschehen. Aus diesem Œuvre, das nun doch nicht unbedingt nur Duoeinspielungen beinhaltet, wurde dieses Album zusammengestellt, praktisch ein Best-of, das nicht als solches bezeichnet wird. Die Songs von Patton und Brokus sind sauber gearbeitet und gehen gut ins Ohr. Patton bezeichnet Bob Dylan, Van Morrison und Neil Young als seine Vorbilder, was gut nachvollziehbar ist. Er ist ein Songschreiber, der lieber Geschichten erzählt, als sich im allzu Privaten zu wälzen. Soziale und psychologische Kommentare zum Zustand der US-amerikanischen Gesellschaft sind seine Stärke. Gelegentlich sind Begleitmusiker zu hören, sodass die sparsam eingespielten Songs immer abwechslungsreich klingen.
Michael Freerix

 JONAH TOLCHIN: Fires For The Cold
JONAH TOLCHIN
Fires For The Cold
(Yep Roc Records)


Mit weicher, sympathischer Stimme croont sich Tolchin irgendwo zwischen Jim Croce und John Gorka durch entspannte Liebeslieder und intelligente Selbstreflexionen. Edelgäste wie Greg Leisz an der Steel, Sara Watkins an der Violine oder Jackson Browne und Ricky Lee Jones als Gastsänger gaben sich im Studio die Ehre. Ihnen gelang ein weicher akustischer Sound, der so auch auf ein Wohnzimmerkonzert duplizierbar wäre. Ein „Pling“ des Pianos hier, ein „Swoosh“ des Schlagzeugs dort. Dazu passen die sehr persönlichen Texte. Selbst das im Original von Little Feat recht funkige „Roll Um Easy“ zerfließt in den Händen des Songwriters aus New Jersey zu flüssigem Gold. Und mit „The Real You“ gelingt ihm ein berührendes Liebeslied für eine wirklich kaputte Frau. Gäbe es noch Kassetten, man würde das vielen Angebeteten aufnehmen und dann beschriften: „You’re damaged baby, you’ve got open wounds. And I don’t wanna make a movie of your life. I just want you to stop twisting the knife. Breathe and love yourself.“ Herzzerreißend.
Martin Wimmer



Lateinamerika
 Mariachi los Camperos: De Ayer Para Siempre
Mariachi los Camperos
De Ayer Para Siempre
(Smithsonian Folkways), mit engl. u. span. Texten u. Infos


Die mit dem Grammy ausgezeichnete Mariachi-Truppe lässt wirklich keine Wünsche offen und kommt an die Qualität des großen Vicente Fernandez heran. Mit anderen Worten: Wahnsinnsstimmen zum Niederknien, höchst virtuoses Spiel, galoppierende Trompeten, gegen die jene von Jericho nichts waren, schmachtende Geigen, die jedes Herz sofort schmelzen lassen und manchmal Harfen zum Dahindriften. Dazu perfekter Satzgesang, auch mal a cappella, Stücke, die sich entwickeln, Rhythmen, die zwischendurch oft mit der Geige gezupft werden – das ist hohe Kunst! Und natürlich das übliche Gejuchze, zwitschernde Vögel im Walde – sind wir also mitten in einem Kitschbild, oder was? Manche Hörer können diese wuchtige Emotionalität vielleicht nicht ertragen und lachen darüber. Dies ist aber vielmehr die Volksmusik der Mexikaner in Perfektion, und die sollte deshalb wirklich nicht anders klingen. Bei den Mexikanern löst sie Freude und überbordende Gefühle aus. Das kann man doch immer gebrauchen, oder? Und zum Einhören gibt es hier sogar einige Klassiker, die jeder schon einmal gehört hat: „(E Viva) Espagna“ oder „Mexicali Rose“. Umwerfend!
Hans-Jürgen Lenhart
 DANIEL MURRAY : Universo Musical De Egberto Gismonti – Guitar solo
DANIEL MURRAY
Universo Musical De Egberto Gismonti – Guitar solo
(Carmo/ECM)


Daniel Murray, Gitarrist aus Rio de Janeiro, hat die definitive gitarristische Hommage an das Werk des brasilianischen Komponisten Egberto Gismonti veröffentlicht. Die erste Real-Life-Begegnung der beiden Musiker fand im Juli 2015 statt. Man saß bei Kaffee, Wasser und brasilianischem Dessert beisammen, spielte Gitarre und tauschte Ideen aus. Noch in der gleichen Woche legte Murray dem Meister sein erstes Arrangement einer Gismonti-Komposition vor und erhielt dessen Segen. Murrays Interpretationen der Werke Gismontis Arrangements zu nennen, ist eigentlich zu wenig. Er erfindet sie neu, er spielt mit dem Material, er improvisiert, er lässt den Rahmen der Stücke oft weit hinter sich und schenkt den Originalen damit eine wilde Frische und Originalität. Und er wird damit dem Geist der Schöpfungen Gismontis gerecht wie kaum ein anderer. Es gibt darin Momente, die einen sprachlos machen. Viele der Werke hat Gismonti für Klavier geschrieben, hat sie selbst auf zahlreichen Alben veröffentlicht, immer wieder aufs Neue interpretiert. Und nun kommt einer und hat im Maximalfall gerade mal zehn Saiten zur Verfügung. Doch die Verwandlung gelingt – unfassbar virtuos und, was noch wichtiger ist, brasilianische Seele pur.
Rolf Beydemüller

 Lucas Santtana: O Céu É Velho Há Muito Tempo
Lucas Santtana
O Céu É Velho Há Muito Tempo
(Nø Førmat)


Mit Bezug auf die Regierung von Jair Bolsonaro sagt der brasilianische Liedermacher Lucas Santtana in der Presseinfo: „Diese Milizen-Regierung propagiert die tödliche Nutzung von … verbotenen Agrochemikalien in der Landwirtschaft, der Besitz von Schusswaffen ist für fast jeden legalisiert und das Land indigener Völker im Amazonasbecken zur Ausbeutung des Mineralienreichtums beschlagnahmt worden.“ Bisher wurde selten ein brasilianischer Musiker so deutlich. Insofern ist sein Album überraschend, weil der als Innovator und Klangexperimentator bekannte Mann hier jegliche Effekte weglässt und sich nur auf die Gitarre, seine Stimme und Texte verlässt. Er klagt die verlogene Justiz an sowie die Polizei, die ohne Rücksicht auf Unbeteiligte mit Todeskommandos in den Favelas agiert, und die mit erpresserischen Methoden in der Politik vorgehende Kirche. Dem setzt Santtana in anderen Songs einfach der Liebe als Gegenpol ein Denkmal. Sein Album ist voller intimer Balladen mit ergreifenden Melodien, die oft mit Chorusstimmen verstärkt werden. Der schönste Song, „Meu Primeiro Amor“, erinnert mit seinem hüpfenden Rhythmus an Stücke von Chico César und wird im Duett mit der Sängerin Duda Beat gesungen.
Hans-Jürgen Lenhart
 GRAZIE WIRTTI & MATÍAS ARRIAZU: Caçador De Infância
GRAZIE WIRTTI & MATÍAS ARRIAZU
Caçador De Infância
(Carmo/ECM), mit portug. Texten


Die brasilianische Sängerin Grazie Wirtti und der argentinische Gitarrist Matías Arriazu wurden wohl nicht von ungefähr von Brasiliens Gitarrenlegende Egberto Gismonti zu dieser Produktion eingeladen. Man merkt die musikalische Verwandtschaft sofort. Arriazu spielt eine achtsaitige Spezialgitarre und zeigt, was man so alles aus dieser herausholen kann, vom fliegenden Akkordwechsel bis zu Glissandi auf der Basssaite, dem Meister Gismonti ebenbürtig. Wirtti ist eine ausdrucksstarke Sängerin, die an die Portugiesin Maria João erinnert. Sie nutzt das ganze Spektrum der Gesangskunst, singt ungemein rhythmisch, synchron zur Gitarre, aber auch erzählerisch, als würde sie ein aufgeregtes Gespräch führen, flüstert, haucht oder experimentiert mit dem Kontrast von abgehackten Silben und langen Vokalen. Perfekt sind die beiden in João Boscos „O Ronco Da Cuica“, einem der perkussivsten Gitarrenstücke überhaupt. Komplexe Kompositionen mit unterschiedlichen Tempi und Stimmungen prägen das Album. Höhepunkt ist „Verde Limao“, das mit „Mouth Percussion“, Zuggeräuschen ähnlich, anfängt und endet. Dazwischen hört man die hohe Kunst einer längeren Improvisation auf einem Akkord, die nie langweilig wird.
Hans-Jürgen Lenhart