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Backkatalog   Ausgabe Nr. 1/2021   Internetartikel
 

Ausklang



Endo Anaconda * Foto: Frank Zauritz

ENDO ANACONDA


6.9.1955, Burgdorf, Kanton Bern, Schweiz
1.2.2022, Olten, Kanton Solothurn, Schweiz


Ds läben isch e geischterbahn
Am morge früeh im erschte tram
I zieh mis gsicht ab blybe gloon
Und fahre bis zur ändstation

„Das Leben ist eine Geisterbahn. Frühmorgens im ersten Tram, ziehe ich mein Gesicht aus, bleibe Narr und fahre bis zur Endstation.“

Mit dem Lied „Geischterbahn“ erhielt Endo Anaconda mit seiner Band Stiller Has 2007 den Liederpreis der Liederbestenliste. Die Geisterbahnfahrt ist eine Metapher für das Leben des Sängers. Da sitzt er im Berner Tram und schaut sich die geschniegelten Leute an, die zur Arbeit fahren. Da will er nicht dazugehören. Eigentlich möchte er gar nicht mitfahren. Nur schafft er es nicht auszusteigen.
Als Andreas Flückiger wird Endo Anaconda hineingeboren ins Berner Hinterland. Vier Jahre später stirbt sein Vater nach einem Autounfall. Seine Mutter zieht zurück in ihre Heimat Österreich. Den kleinen Andreas steckt sie in ein katholisches Internat. Er findet dort keine Heimat, nur die Hölle. Gegen diese stemmt er sich später mit Alkohol und Drogen und sucht das Glück in einer kommunistischen Organisation. 1981 zieht er nach Bern, schlägt sich mit Gelegenheitsjobs und kleinen Gaunereien durch, lernt seine späteren Bandkollegen kennen und gründet mit ihnen Stiller Has. Gitarrist Schifer Schafer schreibt die Melodien, Endo Anaconda die Texte – wortreich, von zärtlich bis knallhart, kritisch, aber auch einfühlsam, wild, witzig und würzig. Er erfindet einen Berner Blues, den es so noch nie gegeben hat – und nie mehr geben wird. Erstaunlich daran ist, dass Stiller Has mit ihrer Musik Erfolg haben. Offenbar fühlen sich viele Schweizer in Endo Anacondas Suche nach einem Platz auf dieser Welt mehr zu Hause als in derjenigen der Schweizer Rockprominenz mit ihren Liebesnächten an Bergseen.
Endo Anaconda war ein unermüdlicher Schaffer, ein Bühnentier. Er war ein überaus angenehmer, sprühender Gesprächspartner, der sich in jede seiner Karten blicken ließ. „Ich stehe auf der Bühne, bis ich umkippe.“ Ach Endo, hättest du früher mit Saufen und Rauchen aufgehört, wäre das nicht so früh passiert. Hoffen wir nur, dass dein Wunsch in „Geischterbahn“, ein Grab mit Blumen zu bekommen oder wenigstens mit einem leeren Blumentopf darauf, in Erfüllung geht.

Martin Steiner



Norma Waterson * Foto: Ingo Nordhofen

NORMA WATERSON


15.8.1939, Hull, Yorkshire, England,
bis 30.1.2022, Robin Hood’s Bay, Yorkshire, England


Norma Christine Waterson, so ihr voller Name, war als Mitglied der A-cappella-Familiengruppe The Watersons eine der einflussreichsten Sängerinnen des englischen Folkrevivals, gesegnet mit einer Stimme von hohem Wiedererkennungswert. 1972 heiratete sie Martin Carthy, und aus dieser Ehe entstammt Tochter Eliza Carthy. Zusammen trugen die drei den inoffiziellen Titel „First Family of Folk“. Als Eliza musikalisch erwachsen wurde, firmierten die Familie (gemeinsam mit Saul Rose) erfolgreich als Waterson:Carthy. Auch als Solokünstlerin, die Genregrenzen gerne ignorierte, war Norma Waterson erfolgreich. Gleich ihr erstes Album wurde 1996 für den prestigeträchtigen Mercury Prize nominiert und musste sich nur der Gruppe Pulp geschlagen geben. 2003 verlieh ihr die Queen den MBE-Orden (Member of the British Empire) für ihre Verdienste in Sachen Folkmusik. Legendär war der Auftritt von Waterson:Carthy auf dem damaligen TFF Rudolstadt. Beim total verregneten Konzert auf der Heidecksburg war die Band so begeistert vom wetterresistenten Publikum, dass sie sich in Solidarität vor die Bühnenüberdachung in den Regen begaben. Norma war in den letzten etwa zehn Jahren nicht bei bester Gesundheit und starb an einer Lungenentzündung.

Mike Kamp



Maurizio Martinotti * Foto: Archiv Ethnosuoni

MAURIZIO MARTINOTTI


1953, Casale Monferrato, Italien,
bis 31.12.2021, Alessandria, Italien


Am späten Silvesterabend erreichte mich die traurige Nachricht, dass Maurizio Martinotti gestorben ist. Er hat so viel für den Folk und die traditionelle Musik in Italien und ganz Europa getan, war ethnomusikologischer Forscher, Komponist, Arrangeur, Musiker, Sänger und Leiter mehrerer wegweisender Bands wie La Ciapa Rusa, Tendachënt oder des Ensemble del Doppio Bordone. Gleichzeitig war er Labelchef, Verleger, Kunstverwalter, Tourneeveranstalter und Leiter des Festivals Folkermesse. Vor allem aber liebte er seine Familie. Er war ein Geschichtenerzähler mit einem unerschöpflichen Vorrat an lustigen Anekdoten. Und jemand, der gerne viel und gut aß – Jean Blanchard erinnert sich vielleicht daran, wie wir drei in einem kleinen Familienrestaurant hoch in den piemontesischen Hügeln Trüffel gegessen haben. Leidenschaftlich begeisterte er sich für alle Arten von Musik, war intelligent, witzig, neugierig auf die Welt und alles, was dazugehört. Trotz gesundheitlicher Probleme in den letzten Jahren kam es mir vor, als sei er unsterblich. Er hat in Italien viel für unsere Band Blowzabella getan, und ich hatte das große Glück, an zwei seiner paneuropäischen Volksmusikprojekte beteiligt zu sein – Il Viaggio di Sigerica und Pau i Treva. Musiker, Musikerinnern und Publikum haben ihm viel zu verdanken. Wie vielen anderen bleiben mir zahlreiche Geschichten und wertvolle Erinnerungen an die Zeiten, die ich im Laufe der Jahre mit ihm verbringen durfte. Meine Gedanken sind bei seiner Frau Maura und Tochter Gabrielle.

Paul James



Bernie Conrads * Foto: Ingo Nordhofen

BERNIE CONRADS


8.10.1950, Aachen,
bis 17.11.2021, Bad Mergentheim


Bernie war für mich eine Schlüsselfigur und extrem prägend für meinen musikalischen Werdegang. Als ich 1977 das erste Album seiner Bernies Autobahn Band hörte, wusste ich erst mal nicht wie mir geschah. Da war dieser komische Bandname, der eine Truckerband vermuten ließ. Aber dagegen stand der groovige Folksound mit diesen sensationellen eigenen Texten und fünf Typen, die so gar nichts mit der amerikanischen Truckerromantik zu tun hatten. Fünf Hippies, die auf ihren akustischen Instrumenten mehr Druck draufhatten, als die meisten Rock-’n’-Roll-Kapellen in meiner Umgebung. Klar gab es davor schon Udo Lindenberg, der sprachlich neue Horizonte aufgemacht hatte, aber die Musik konnte leider nicht mit meinen musikalischen Vorbildern mithalten. Es wirkte immer etwas zu sehr bemüht und verlor sich in der großen Rock-’n’-Roll-Inszenierung. Bernies Autobahn Band hingegen war einfach da und spielte! In Kneipen, in Clubs, auf Festivals, bei irgendwelchen Demos. Jeden Monat zwanzig bis dreißig Gigs! Während bei den Festivals die coolen Rock-’n’-Roller noch ihr massives Equipment in ihren Bussen verstauten, waren unsere Folkies schon mit den Mädels, dem ganzen Bier und den anderen Drogen im Partymodus. Das war damals für mich die Erleuchtung beziehungsweise erstmalig erlebte Diskrepanz zwischen Sein und Schein.
Auch mein Fansein wurde nicht hochnäsig angenommen, sondern nach dem Motto: Du findest das gut, dann bist du einer von uns. Schnell lief man sich öfter über den Weg, und ich fing auch an, meine ersten Songs zu schreiben. Ich spielte sie Bernie vor, er gab mir Ratschläge, und irgendwann hatte ich einen Song, den er nun wieder so gut fand, dass er ihn mit seiner Band machen wollte. Das war für mich quasi der Ritterschlag. Von da an entwickelte sich eine rege Zusammenarbeit. Ich spielte bei einigen Produktionen mit, die immer sehr chaotisch abliefen, da Bernie und seine Jungs das Straßenpartyleben auch im Studio nicht ablegten.
Bernie schrieb auch nach dem Ende der Band Ende der Achtziger fast täglich einen Song. Ich glaube, das Schreiben war über viele Jahre wirklich sein Lebenselixier. Er konnte in einer sehr ungekünstelten, leichten Art und Weise über Alltägliches schreiben wie kein anderer. Die Zeilen „Der Henkel riss ab, alles fiel auf den Boden – Kartoffeln, Tomaten und Paprikaschoten.“ aus dem Song „Tage wie dieser“ sind ein perfektes Beispiel. Eine Liebesgeschichte, die so nah am Zuhörer, der Zuhörerin ist und auch nach über vierzig Jahren immer noch so klingt, als wären sie gerade gestern geschrieben worden.
Darüber hinaus war er ein Meister darin, die Worte rhythmisch so passend zu setzen, dass es schon beim Lesen swingte. Es waren für mich immer absolute Höhepunkte, zu Bernie zu fahren und mit ihm – oder auch im Trio mit unserem Freund Danny Dziuk – Geschichten zu spinnen und sich diebisch daran zu erfreuen, ohne irgendwelche kommerziellen Gedanken dabei zu haben. Ob es Geschichten über den Kühlschrank, Wellness Werner oder Willie und Gerd waren. Wir kamen teilweise stundenlang aus dem Lachen nicht mehr raus. Ganz egal, ob am Ende ein fertiger Song dabei rauskam oder wir nur Spaß an den Fragmenten hatten. Für Bernie war der Weg das Ziel.
Er war keiner für die große Bühne, die wirksame Inszenierung. Er liebte es, mit Freunden zusammen zu musizieren oder Musik zu hören und neue Songs entstehen zu lassen. Er arbeitete gerne im Garten, hatte Freude am Kochen, versorgte die Familie und war Fan von Alemannia Aachen. Er engagierte sich in seinem kleinen Dorf bei Würzburg und ließ so gar nicht den großen Künstler raushängen. Aber genau das war er, ein großer Künstler! Der es nicht nötig hatte, das an die große Glocke zu hängen. „Ich sah die Würfel fallen, / Es war ein Sechserpasch. / Ich ließ die Korken knallen, / Ich ließ die Puppen tanzen / Und merkte im Nu, / Wer mir fehlte, wer mir fehlte warst du.“ Aus Bernies Song „Wer mir fehlte“. Ruhe in Frieden!

Stefan Stoppok, November 2021



Roland Schmitt * Foto: privat

ROLAND SCHMITT


3.7.1953, Mainz,
bis 18.10.2021, Saarbrücken-Eschringen


Letztes Jahr Walter Bast, dieses Jahr Roland Schmitt! Beide meldeten sich auf die Kleinanzeige im Magazin Sounds, Ausgabe 8/1977, mit der ich für die Unterstützung meines Projektes Michel – Folkzeitung warb, und beide waren als Einzige all die Jahre und Namensänderungen mit an Bord.
Roland arbeitete Zeit seines Berufslebens als Archivar des Printarchivs des Saarländischen Rundfunks. Folk- und Weltmusik waren seine Hobbys. Neben seiner Vorliebe für afrikanische und arabische Musik kümmerte er sich besonders intensiv zum Beispiel um das Schaffen des ehemaligen Small-Faces-Gitarristen Ronnie Lane und des Mick-Jagger-Bruders Chris Jagger. Beim folker stand er als zuverlässiger Rezensent insbesondere für den Bereich Afrika auf der Liste. Das letzte Mal trafen wir uns zur Feier eines halbrunden Geburtstags von mir und gaben uns das Versprechen, uns demnächst als Rentner häufiger zu besuchen. Das muss dann jetzt leider warten bis zur großen folker-Reunion ein paar Etagen höher.

Mike Kamp



Mikis Theodorakis * Foto: Wassilis Aswestopoulos

MIKIS THEODORAKIS


29.7.1925, Chios, Griechenland,
bis 2.9.2021, Athen, Griechenland


Er ist dem Tod während seines langen Lebens oft begegnet. Er hat mit ihm gerungen und gestritten, Angst hatte er keine vor ihm. Am 2. September hat sich „Mikis“, wie er von seinen Landsleuten liebevoll genannt wird, ihm nun im Alter von 96 Jahren ergeben.
Theodorakis ist einer der bedeutendsten Komponisten Griechenlands. Und eine der wichtigsten Stimmen, zum einen als Schöpfer eines gewaltigen Werkes an Liedern, von denen viele heute zum „zeitgenössischen künstlerischen“ Volkslied gerechnet werden, zum anderen als politisch aktiver Kämpfer für Freiheit und Frieden, zeitweise gehörte er sogar als Abgeordneter dem Parlament an. Mikis Theodorakis wurde am 29. Juli 1925 auf Chios geboren. Der Vater stammte von Kreta, war Jurist und Verwaltungsbeamter, die Mutter gehörte zu den griechischen Vertriebenen aus den Gebieten der heutigen Türkei. Es gab früh Berührung mit Musik im Hause Theodorakis, neben griechischer Folklore auch Klassik und Jazz.
Erzählt man Theodorakis Lebensgeschichte nach, erzählt man gleichzeitig die wechselhafte Geschichte Griechenlands. Er hat immer Position bezogen, in Worten und in Taten. Ob in den Jahren 1941 bis 1944, zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs unter deutscher, italienischer und bulgarischer Besatzung, während des griechischen Bürgerkrieges von 1946 bis 1949 oder zur Zeit der Militärdiktatur von 1964 bis 1974, man findet Theodorakis an vorderster Front im Widerstand. Er ist wiederholt verhaftet worden, hat in den Konzentrationslagern auf Makronisos und Oropos unter unmenschlichen Bedingungen Folter erlitten. Gebrochen wurde er nie. Er kehrte zurück und mit ihm sein leidenschaftliches, allen Gefahren trotzendes Engagement für die Freiheit und der Kampf gegen die allgegenwärtige Unterdrückung.
Die Musik, deren Studium er mit zahlreichen Unterbrechungen 1950 am Athener Konservatorium abschloss, ist ebenso Ausdruck der Verbundenheit mit der Kultur seiner Heimat wie die entschlossene Ausformulierung höchster ethischer und sozialer Werte. Während der Zeit seines Stipendiats in Paris studierte Theodorakis unter anderem Komposition bei Olivier Messiaen. Nach seiner Rückkehr nach Athen wandte er sich der griechischen Musik zu, dem Verhältnis von klassischer Musik zur Volksmusik – ein leidenschaftlich geführter Diskurs nahm seinen Anfang. Theodorakis verwendete die Lyrik bedeutender zeitgenössischer griechischer Dichter als Grundlage für die Komposition seiner Lieder, die im melodiösen Duktus ganz volksliedhaft sind. So kommt es, dass in den Tavernen beim Wein Lieder gesungen werden, die bedeutende Lyrik zum Inhalt haben. Der Epitaphios auf Gedichte von Giannis Ritsos, eins der wichtigsten Werke, wurde 1960 in zwei Aufnahmen veröffentlicht. Einmal in einer „klassischen“ Orchesterversion mit der Sängerin Nana Mouskouri und ein anderes Mal in einer von Theodorakis selbst initiierten Aufnahme mit dem Volksmusiksänger Grigoris Bithikotsis. Hier fand die Bouzouki, das klassische griechische Saiteninstrument, Verwendung.
1963 entdeckt Theodorakis die damals sechzehnjährige Maria Farantouri, die sich fortan als bedeutendste Interpretin seiner Lieder etablieren sollte. 1964 entstand der Liederzyklus Mauthausen nach Gedichten von Iakovos Kambanellis. 1972 entschloss er sich bei einem Treffen mit Salvador Allende und Pablo Neruda in Chile dessen Canto General zu vertonen. Natürlich darf die Filmmusik zu Alexis Sorbas (1964) nicht unerwähnt bleiben und der von Theodorakis für diesen Film entwickelte Sirtaki, der auf traditionellen Tänzen basiert. Es mag an dieser ausgesprochenen Hinwendung Theodorakis zum Volksliedhaften liegen, dass er als Komponist in Deutschland nie recht ernst genommen wurde, dabei ist er ebenso der Schöpfer von Sinfonien, Oratorien und Opern. Mikis hat sich mit seinen Hunderten von Liedern tief in die griechische Seele hineingeschrieben. Und damit unsterblich gemacht.

Rolf Beydemüller


Buchtipp:
Wassilis Aswestopoulos, Mikis Theodorakis – Komponist, Friedensstifter, Volksheld (Kurz & Bündig Verlag, 2018)





Matthias Kießling Anfang Achtziger beim Folkfestival im Haus der jungen Talente, Ostberlin * Foto: Jürgen Hohmuth, zeitort

MATTHIAS KIESSLING


19.5.1956, Steinheidel-Erlabrunn,
bis 24.10.2021, Cottbus


Mit „Kies“ ist einer der prägendsten Musiker des DDR-Folkrevivals von uns gegangen. In Johanngeorgenstadt im Westerzgebirge aufgewachsen, ging er nach einer Bauarbeiterlehre im vogtländischen Plauen in die Lausitz – an die Bauingenieurschule Cottbus. Dort gründete er mit Scarlett Seeboldt, Jörg „Ko“ Kokott und weiteren Studenten die Gruppe Wacholder, welche in kurzer Zeit zu den kreativsten und wichtigsten Folkbands der DDR gehörte. Wacholder beschritten neue Wege, indem sie neben den üblichen, oft gesellschaftskritischen Volksliedern komplette Programme inszenierten. Folgerichtig waren Wacholder 1982 an der legendären Hammer=Rehwü beteiligt. Bei Festivals stand die Gruppe mit engagierten Liedern neben Größen wie Eric Bogle, Dick Gaughan und Hannes Wader auf der Bühne. Daneben gab es erste Soloprojekte, auch von Kies, und zunehmend eigene Texte. Nach 1990 setzten Wacholder ihre Karriere bis zur Auflösung 2001 fort. Kies wandte sich nun zunehmend dem Irish Folk zu, beispielsweise in der Band Norland Wind mit Thomas Loefke. Eine langjährige intensive Zusammenarbeit verband ihn mit der Riverdance-Geigerin Máire Breatnach und dem Programm „Celtic Cousins“. Ab 2008 spielte er zudem in der Irish-Folk-Band Éist. Neben der irischen Musik entwickelte sich seine Liebe zur sorbischen Kultur der Lausitz. Kies schrieb Kompositionen zu Texten des sorbischen Schriftstellers Jurij Koch und trat gemeinsam mit ihm auf. Mit Peter Voigt verband ihn eine enge Zusammenarbeit im Bearbeiten sorbischer Volkslieder. Nach Unfolked erschien 2012 das Album Helm ab zum Gebet mit Antikriegsliedern. Kies war ein in Folkkreisen stets anerkannter und beliebter Musiker. Eine Woche vor dem ersten großen Treffen der Ostfolkszene, dem „Altenheimspiel“ in Plauen, vollendete sich plötzlich und unerwartet sein Leben.

Reinhard „Pfeffi“ Ständer

Siehe auch: www.ostfolk.de/aktuell/matthias-kies-kiessling-ist-tot-25.10.2021





Paddy Moloney * Foto: Dean+Barb, CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

PADDY MOLONEY


1.8.1938, Dublin, Irland,
bis 11.10.2021, Dublin, Irland


Die Welt trauert um einen charismatischen, enthusiastischen, kreativen und innovativen Pionier und Botschafter der irisch-traditionellen Musik: Paddy Moloney. Der in einer Musikerfamilie aufgewachsene Uilleann-Pipes- und Whistlespieler war zunächst in der Buchhaltung einer irischen Baufirma beschäftigt, bevor er sich in den 1950er-Jahren immer mehr der irischen Musik zuwandte. Er lernte diverse Musiker wie Seán Potts oder Michael Turbridy kennen, mit denen er in den späten Fünfzigern in Seán Ó Riadas Ensemble Ceoltóirí Chualann zusammenspielte. 1962 wollte Moloney schließlich eigene musikalische Ideen verwirklichen und gründete die legendäre Gruppe The Chieftains, denen zum Teil auch Mitglieder von Ceoltóirí Chualann angehörten.
Das Debütalbum der Band erschien zwei Jahre später auf dem 1959 neu gegründeten Plattenlabel Claddagh Records, für das Moloney viele Jahre hauptberuflich arbeiten und seinen Job als Buchhalter an den Nagel hängen sollte. Weitere Alben folgten, die Popularität der Gruppe stieg und stieg, sodass schließlich alle Bandmitglieder Berufsmusiker wurden. Moloney war dabei stets treibender Motor, kreativer Kopf, Ideen- und Impulsgeber, und der Sound seiner Uilleann Pipes war ein zentrales Markenzeichen.
Nachdem etliche Alben traditioneller irischer Musik treu geblieben waren, öffneten sich Piper und Band in grenzüberschreitender Weise zunehmend auch anderen Stilrichtungen und kooperierten mit entsprechenden Ikonen auf äußerst kreative und zuvor nicht gekannte Weise, zum Beispiel mit Mick Jagger, Mike Oldfield oder Van Morrison. Dadurch verstanden sie es, unzählige musikalische und soziale Brücken zu bauen.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass Paddy Moloney sein Leben von ganzem Herzen der traditionellen Musik in Irland gewidmet, unzähligen Musikerinnen und Musikern wertvolle Inspiration und großzügigen Zuspruch geschenkt und das Ansehen der irischen Musik weltweit gesteigert hat. Für seinen unermüdlichen Einsatz erhielt er 1988 vom Trinity College Dublin den Ehrendoktortitel. Bis zu seinem Lebensende spielte er – der „Chief“ der Chieftains – in dieser weltberühmten Band, die auf dem gesamten Globus Generationen von Musikerinnen und Musikern beeinflusste.
Ich selbst hatte die große Freude, die Bühne mit dieser Ausnahmepersönlichkeit zu teilen, und werde seine Zugewandtheit, seine Bescheidenheit, seine Spielfreude und sein einzigartiges Spiel auf den Uilleann Pipes und der Whistle nie vergessen.

Jens Kommnick



Esther Bejarano * Foto: Ingo Nordhofen

ESTHER BEJARANO


15.12.1924, Saarlouis,
bis 10.07.2021, Hamburg


Wieder ist eine mahnende Stimme gegen das Vergessen endgültig verstummt. Buchstäblich bis zu ihrem letzten Atemzug demonstrierte die Jüdin Esther Bejarano ein beispielloses Engagement gegen Rassismus und rechten Extremismus. Die Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück sowie eines der berüchtigten Todesmärsche war seit 1979 eine der nachdrücklichsten Kämpferinnen gegen eine Wiederholung der Geschichte. Als Polizisten damals einen Informationsstand der NPD gegen Demonstranten mit Schlagstöcken verteidigten, geriet sie so in Rage, dass sie ihr langjähriges Schweigen über die Erlebnisse unter den Nazis brach und sofort begann, ihre Geschichte aufzuschreiben. Sie schloss sich der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes an, gründete das Auschwitz-Komitee, organisierte Bildungsreisen zu Konzentrationslagern, veranstaltete Zeitzeugengespräche und besuchte vor allem regelmäßig Schulen. Gerade an die Jugendlichen hatte sie dabei eine klare Botschaft: „Ihr habt keine Schuld an dieser Zeit. Aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr nichts über diese Zeit wissen wollt. Ihr müsst alles wissen, was damals geschah. Und warum es geschah.“ Das wichtigste Mittel gegen das Vergessen war für Esther Bejarano immer die Musik. In Ausschwitz rettete sie das Mädchenorchester, weil sie in Klavier geschult auch Akkordeon spielen konnte. Später in Israel studierte sie Koloratursopran. Zurück in Deutschland erhob sie damit ihre eindringliche Stimme. Sie stand mit Künstlern wie Harry Belafonte und Konstantin Wecker auf der Bühne, veröffentliche Alben mit antifaschistischen Liedern und gründete mit ihren Kindern Edna und Joram die Gruppe Coincidence. Herausstechend ist jedoch ihr 2009 begonnenes Projekt mit der Kölner Hip-Hop-Band Microphone Mafia (siehe auch Folker 3/2012: http://archiv.folker.de/201203/05estherbejarano.php). Mit ihren beiden Alben Per La Vita („Für das Leben“) und La Vita Continua („Das Leben geht weiter“) sowie ihren fast 900 gemeinsamen Konzerten unterstrich Bejarano, dass man nie aufhören darf zu erinnern und sich dabei auch im hohen Alter immer auf die Jugend zu bewegen muss. Ihre kraftvolle Stimme gegen rechts wird schmerzlich fehlen.

Erik Prochnow



Manfred Miller * Foto: Federico Caprilli)

MANFRED MILLER


11.4.1943, Reichenberg (heute Liberec, Tschechien),
bis 4.6.2021, Mainz


Er war als Solist genauso gut wie als Teamplayer. Sohn einer Kammersängerin und eines Bühnenbildners, spielte er bereits mit vier Jahren Klavier und war bald zu Hause in der europäischen Musikgeschichte. Als Buchautor, Plattenproduzent, Filmemacher, Songschreiber und Rundfunkredakteur wurde er vor allem bekannt durch seine Arbeiten zur populären Musik. „Wie wenige andere verband Miller für seine journalistischen Arbeiten materialistische Erkenntnis mit teilweise poetisch formulierter Analyse“, so Christoph Meueler im Neuen Deutschland. „Miller interessierte sich in erster Linie für Jazz und Blues als emanzipatorische Musikgenres.“ Er gehörte 1972 zu den Autoren der dreizehnteiligen NDR-Fernsehserie Sympathy for the Devil (Redaktion Horst Königstein) und schrieb ab 1973 mit an der hundertteiligen Radio-Bremen-Hörfunkreihe Roll over Beethoven – Zur Geschichte der populären Musik. Seine einflussreiche Sendung Blues Time mit der handverlesenen Musik, den kongenialen Übersetzungen und seiner tollen Stimme hatte bis 1989 fast zwei Jahrzehnte einen festen Sendeplatz im SWF/SWR-Hörfunk.
Zusammen mit Peter Schulze und Klaus Kuhnke gründete er das Bremer Archiv für Populäre Musik. Das war 1975 (im Windschatten von 1968); im selben Jahr entstand in Mainz das bis heute höchst lebendige Open Ohr Festival, auch dank der nachhaltigen Unterstützung Manfred Millers. Er machte sich überhaupt für jede Art von soziokultureller Basiskultur stark, auf der Burg Waldeck wie in Lahnstein. Dort zählte er 1981 zu den Mitbegründern des Internationalen Bluesfestivals. Als er 2020 mit dem Lahnsteiner Bluespreis ausgezeichnet und nach einem Leitspruch für sein Leben und seine Arbeit gefragt wurde, nannte der unorthodoxe Linke einen Satz, der dem Komponisten Hanns Eisler zugeschrieben wird: „Wer nur von Musik etwas versteht, versteht auch von Musik nichts.“ Und dann zitierte er noch Peter Rühmkorf: „Bleib erschütterbar – und widersteh.“
In der Einsamkeit des Wissenschaftlers und Forschers ist sein Hauptwerk entstanden, das Buch Um Blues und Groove: Afroamerikanische Musik im 20. Jahrhundert (Heupferd Musik Verlag, 2017). In der akademischen Fachwelt wurde es hoch gelobt. Und sein langjähriger Mentor und Freund, der Publizist Siegfried Schmidt-Joos, hält es sogar für das „vielleicht wichtigste Jazzbuch in deutscher Sprache seit dem Berendt“. Manfred Miller schließt Um Blues und Groove mit dieser Widmung an seine Frau: „Dank für unerschöpfliche Geduld an Ingrid.“

Ingo Nordhofen, Tom Schroeder



Djivan Gasparyan 2009 * Foto: Sebmarouani, Wikipedia, CC BY 3.0 de (https://de.wikipedia.org/wiki/Dschiwan_Gasparjan#/media/Datei:Djivan_Gasparyan_2009.jpg)

DJIVAN GASPARYAN


12.10.1928, Solak, Armenische Sozialistische Sowjetrepublik,
bis 6.7.2021, Armenien


Djivan Gasparyan war zeitlebens in mehreren Musikwelten zu Hause. Verwurzelt in der Volksmusik seiner Heimat Armenien, blickte er stets auch über den Horizont der eigenen Kultur hinaus. Durch die Zusammenarbeit mit Pop- und Rockstars wie Peter Gabriel und Brian May oder dem Filmkomponisten Hans Zimmer machte Gasparyan das von ihm gespielte Holzblasinstrument Duduk international bekannt. Berühmt wurde er durch seinen Beitrag zur Titelmelodie des Films Gladiator. Trotz des Genozids in der Zeit des Osmanischen Reiches setzte sich Djivan Gasparyan für die Aussöhnung Armeniens mit der Türkei ein. Dafür wurde er als Teilnehmer eines Friedenskonzerts 2009 in Istanbul wie ein Staatsgast empfangen. Den wenigsten Zuschauern des Eurovision Song Contests 2010 dürfte hingegen klar gewesen sein, wer da – bescheiden und freundlich lächelnd am Rande stehend – den seichten Popsong der armenischen Sängerin Eva Rivas mit zarten Tönen untermalte. Djivan Gasparyan, der vielfach preisgekrönte Musiker und Professor am Konservatorium in Jerewan, starb am 6. Juli 2021 im Alter von 92 Jahren.

Bernd G. Schmitz



Marijke Barkhoff-Freeling * Foto: Bernd G. Schmitz

MARIJKE BARKHOFF


9.6.1941, Niederlande,
bis 7.6.2021, Niederzier


Marijke Barkhoff war eine Pionierin, was die Förderung zugewanderter Künstlerinnen und Künstler anging. Damit trug sie einiges dazu bei, dass diese Beachtung und Wertschätzung erfuhren. 1999 gründete die energiegeladene kleine Frau aus Jülich den Verein Kultur ohne Grenzen. Eines von dessen Zielen war es, aus ihrer Heimat geflohenen Musikerinnen und Musikern erste Auftritte zu ermöglichen und ihnen den Weg in die hiesige Kulturszene zu ebnen. Auslöser für Barkhoffs Engagement war die Begegnung mit einem chinesischen Geiger, der im deutschen Exil als Mitarbeiter eines Schlachthofs arbeiten musste. Dessen Frau, ehemalige Solotänzerin an der Oper in Peking, arbeitete als Putzfrau. Beides fand Marijke Barkhoff unwürdig und inakzeptabel. Für ihre ehrenamtliche Arbeit erhielt sie 2014 das Bundesverdienstkreuz. Die für Barkhoff typische, bescheidene Reaktion auf die Verleihung des Ordens: „Ich weiß gar nicht, ob ich den verdient habe.“ Angenommen hat sie ihn natürlich trotzdem – wohlwissend, dass die Würdigung ihrer Person auch eine gute PR für den eigenen Verein sein und das wiederum „ihren“ Künstlerinnen und Künstlern zugutekommen würde. Am 7. Juni 2021 starb Marijke Barkhoff – zwei Tage vor ihrem achtzigsten Geburtstag.

Bernd G. Schmitz



Brother Resistance * Foto: Barbara Lamprecht

BROTHER RESISTANCE


24.10.1954, East Dry River, Trinidad,
bis 13.7.2021, Cocorite, Trinidad


Geboren als Roy Lewis, nannte sich der Musiker schon in jungen Jahren Lutalo Makossa Masimba. Bekannt wurde er unter dem Künstlernamen Brother Resistance. In dem von ihm mitbegründeten Musikstil Rapso verbinden sich Soca und Calypso mit ausdruckstarkem Rap, dessen Lyrik in afrikanischen Traditionen wurzelt und gesellschaftliche und politische Themen aufgreift. Mit „Mother Earth“ schuf Brother Resistance den Erkennungssong des World Environment Day 1991 der UNESCO. In seinem bereits 1986 zusammen mit der Network Riddim Band aufgenommenen Stück „Star Warz“ prangerte der Musiker die nukleare Aufrüstung an. Brother Resistance war ein Künstler, der politische Verantwortung übernahm: Als singender Poet, als Dozent, als Organisator des Rapso-Kulturfestivals auf seiner Heimatinsel Trinidad, als Gestalter einer wöchentlichen Radiosendung und langjähriger Vorsitzender der Musikergewerkschaft TUCO. Seine Tourneen führten ihn auch nach Deutschland, wo er unter anderem 1998 und 2001 beim Festival in Rudolstadt auftrat. Eine besonders enge Verbindung hatte Brother Resistance zum Weltnacht-Festival in Bielefeld. 1999, 2000 und 2002 stand er dort in der Ravensberger Spinnerei auf der Bühne und ließ es sich nicht nehmen, auch die Parade des Carnival der Kulturen, samt Band auf einem Truck mitfahrend, mit Rapso-Klängen zu bereichern. Die, die ihn abseits der Bühne persönlich kennenlernen durften, schildern ihn als charismatischen, freundlichen und bescheiden auftretenden Menschen. Lutalo Makossa Masimba, der als Brother Resistance so viel Respekt erlangte, starb im Alter von 66 Jahren.

Bernd G. Schmitz



Uli Rademacher

ULI RADEMACHER


22.1.1945, Hamburg,
bis 6.7.2021, Hamburg


Eine Musikerkarriere war Uli (eigentlich Hans-Ulrich) Rademacher nicht in die Wiege gelegt – es wurde dann auch keine. Der Kaufmannssohn aus dem Hamburger Großbürgertum erfuhr eine umfassende Bildung und lernte Industriekaufmann. Zugleich führte er eine Parallelexistenz als Musiker. Er war Autodidakt, sang zu Gitarre oder Banjo. Seinen ersten Auftritt hatte er mit sechzehn im Danny’s Pan in Hamburg. Bald gehörte er zum harten Kern des Szenelokals, spielte Blues, Jazz und Folk mit allen großen Namen, die dort ein- und ausgingen, von Udo Lindenberg bis Otto. Mit Knut Kiesewetter und Gerlach Fiedler war er befreundet. Die Mundharmonika eröffnete ihm neue Möglichkeiten. Mehrere Jahre tourte er mit Franz Josef Degenhardt. Auf vielen LPs, etwa von Daliah Lavi oder Fiede Kay, ist er zu hören. Er spielte mit Tiny Hagen (zwei Mundharmonikas und Gitarre), dann Blues und Country mit Tom Theisen und später Heidi Gehlert. In den Neunzigern wuchs sein Interesse an Folk; VSOP, Folcs, Railroad Washboard Stompers, Hamborger Schietgäng, Allerhand und Fideedle hießen seine Gruppen. Keine von ihnen wurde überregional bekannt, aber alle machten beachtenswert gute Musik. Bis circa 2013 war er auch Begleitmusiker des Chansonniers Hans Keller und der amerikanischen Sängerin Tish Hinojosa. Trotz seiner unbestreitbaren Fähigkeiten wurde Uli Rademacher nie berühmt. Für ihn kam nicht in Frage, die berufliche Sicherheit aufzugeben – seine Frau Herta litt an einer chronischen Krankheit, an der sie auch viel zu früh starb. Nach ihrem Tod engagierte er sich lange Zeit im Vorstand und als Vorsitzender der LAG Folk Schleswig-Holstein. Er war ein penibler Organisator, kannte sich mit Finanzen und Öffentlichkeitsarbeit aus und konnte mit Menschen umgehen. Freunde beschreiben ihn als „großzügig“ und „stur“. Nicht nur in Hamburg hinterlässt er eine große Lücke.

Susanne Kalweit