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Backkatalog   Ausgabe Nr. 2/2020   Internetartikel




»Musik allein kann das Denken verjüngen.«
David Harrington
Kronos Quartet * Foto: Promo

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Aktuelle Alben:

Placeless
(mit Mahsa & Marjan Vahdat; KKV/Indigo, 2019)

Folk Songs
(Nonesuch/Warner, 2017)

Ladilikan
(mit Trio Da Kali; World Circuit/Warner, 2017)


Cover Placeless


Kronos Quartet

Globale Streicherphilosophie

„Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.“ So beschrieb schon Johann Wolfgang von Goethe das Spiel eines Streichquartetts im Jahre 1829. Fast zweihundert Jahre später gilt das Urteil des Dichters immer noch – auch wenn 1973 als ein entscheidendes Datum angesehen werden muss, ab dem sich vieles für das kammermusikalische Genre änderte. Denn mit der Gründung des Kronos Quartet wurde die Philosophie des Streichquartetts eine globale.

Text: Stefan Franzen

Bis heute sind die vier Musiker um David Harrington aus San Francisco das wahrscheinlich bekannteste String Quartet der Welt, ganz sicher aber das experimentierfreudigste. Mehr als sechzig Alben und tausend Werke – das ist die Bilanz aus 47 Jahren stil- und weltumspannender Arbeit. Es gibt kaum eine Klangkultur, in die Harrington und seine Kollegen und Kollegin John Sherba, Hank Dutt und Sunny Yang (die den Kronos-Cellobogen seit 2013 schwingt) nicht eingetaucht wären. Wenn sie im Juli zum Rudolstadt-Festival kommen, können sie aus einem Repertoire schöpfen, das schier grenzenlos ist.
„Ich fühle mich in jeder Musik der Erde daheim“, bestätigt David Harrington im Interview. „Wenn wir ein Konzert mit einem Stück von Omar Souleyman eröffnen, dann bekomme ich Lust, zu einer syrischen Hochzeit zu gehen, spiele ich eine Komposition einer indischen Geigerin, dann bin ich schnell in Indien, obwohl ich physisch nie dort war. Musik ist für mich eine Gelegenheit, die Zahl der Orte zu erhöhen, die ich mein Zuhause nennen kann.“ Nur ein paar dieser „Zuhause-Orte“ aus den letzten Jahrzehnten seien aufgezählt: 1989 verhalfen sie der Minimal Music zu einem Popularitätsschub, als sie Steve Reichs Different Trains mit gesampelten Eisenbahngeräuschen aus den USA und Europa aufnahmen. Als ein früher Weltmusik-Meilenstein gelten die Pieces Of Africa von 1992, mit dem sie Werke von Komponisten zwischen Mali und Südafrika vorstellten; 2002 stürmten sie auf Nuevo die Welt der mexikanischen Mariachi- und Ranchera-Musik; drei Jahre später tauchten sie mit Bollywood-Diva Asha Bhosle tief in den Klangkatalog der indischen Filmindustrie ein.
Während all der Jahrzehnte ist das Kronos Quartet auch immer seiner ersten Liebe, der Neuen Musik verpflichtet geblieben, wirkt bis heute regelmäßig an Uraufführungen mit. Gerade wer mit diesem Genre fremdelt, sollte sich einmal ein solches Konzert gönnen. Wie an einem denkwürdigen Abend Anfang 2017, den ich in der Roy Thomson Hall in Toronto beim New Creations Festival miterlebte: Eingebettet in Orchester- und Elektronikklänge sowie Videoprojektionen legen die Kronos-Mitglieder immer wieder die Geigen, Bratsche und das Cello zur Seite, spielen singende Schläuche, schnurrende Rappelkästen, stampfen mit den Füßen auf den Boden. Die Weltpremiere von „Black MIDI“ aus der Werkstatt der kanadischen Komponistin Nicole Lizée ist dem Quartett wie auf den Leib geschneidert. Diese geradezu anarchische Lust kam dem wandlungsfähigen Vierer, der nur wenige Umbesetzungen erfahren hat, von Beginn an nicht abhanden. Schaut man allerdings auf drei der neuesten Werke, stellt man schnell fest, dass es auch ganz reduziert und fast dienend geht.
Da sind etwa die Folk Songs: Die Idee der Platte geht auf den ehemaligen Nonesuch-Chef Bob Hurwitz zurück, der den Fünfzigsten des Labels mit einer Reihe von Konzerten feiern wollte. Für Kronos schlug er eine Begegnung mit Sängerinnen und Sängern aus dem Verlagsrepertoire vor: Hipster-Folkie Sam Amidon aus Vermont, Rhiannon Giddens, einer der herausragenden Persönlichkeiten der aktuellen Americana-Szene, das alte Indie-Schlachtross Natalie Merchant und die preisgekrönte Britfolkerin Olivia Chaney. Vier Instrumentalisten, vier Vokalisten, zweimal vier Gesangsstücke. Die magische Vier ist überall präsent. Zufall? „Die Quartetness des Universums ist enorm wichtig für uns“, sagt Harrington mit fast britischem Humor. Um dann nüchtern fortzufahren: „Über eine Arbeitsphase von Monaten filterten wir die Songs heraus, die am schönsten waren, und überlegten uns bei den Arrangements dann, wie wir unsere Möglichkeiten als Streichquartett in die Charakteristika einer jeden Stimme übersetzen könnten. Einfach da sein, ein komfortables Heim für jeden Song bereiten“, nennt Harrington das. „Wir hatten nicht das Bedürfnis, die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.“

... mehr im Heft.