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Backkatalog   Ausgabe Nr. 6/2016   Internetartikel
»Sachen, von denen nicht einmal Gott was gehört hat.«
Lance Ledbetter * Foto: Audra Melton

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Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Printversion, das Heft kann bestellt werden unter www.irish‑shop.de.

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Auswahldiskografie:

Rani Arbo & Daisy Mayhem, Violets Are Blue
2015)

Diverse, Signature Sounds 20th Anniversary Collection – Rarities From The Second Decade
(2015)




Labelporträt (76)

Neues aus der Vergangenheit

Das Label Dust-to-Digital

Vergessene Musik vom Staub der Vergangenheit zu befreien, das ist die Leidenschaft von Lance und April Ledbetter, die ihr 1999 gegründetes Kleinstlabel Dust-to-Digital seit der ersten Veröffentlichung 2003 aus dem Keller ihres steinernen Einfamilienhauses am Stadtrand von Atlanta in Georgia betreiben. Blind Alfred Reed, Washington Phillips, Cambodia’s Lost Rock and Roll oder Feldaufnahmen von Volksmusik, die der Schriftsteller Paul Bowles Ende der Fünfzigerjahre in Marokko machte (siehe auch „Plattenprojekt“ in Folker 4/2016), und vieles andere mehr findet sich im Katalog. Und zwar nicht nur digital, wie der Name suggeriert, sondern auch auf Vinyl. Sogar Bücher mit Fotoserien aus unbekannten Privatarchiven sind neuerdings hinzugekommen. Für das Ehepaar Ledbetter gibt es offensichtlich vieles, das vom Staub der Vergangenheit bedeckt ist und trotzdem für die Gegenwart interessant sein sollte.

Text: Michael Freerix

Doch allein die Artefakte einer Vergangenheit zu entstauben und neu zu präsentieren, reicht den beiden nicht. Im Zusammenspiel mit einer sorgfältigen Edition und unfangreichen Beiheften ist auch die Verpackung wichtig. Alles zusammen soll von der kulturellen und sozialen Atmosphäre einer vergangenen Epoche erzählen und den Hörer oder Betrachter darin eintauchen lassen.
Lance Ledbetter stammt aus dem Siebentausend-Seelen-Städtchen Lafayette in Georgia. Wie viele junge Männer seiner Generation wird er in der Schulzeit durch US-amerikanischen Punk sozialisiert und vor allem von dessen Ethik des Alles-selber-Machens. So oft er kann besucht er Konzerte. Allerdings pflegt er bereits in dieser Zeit ein spezielles Hobby: Er sammelt Miniorgeln, die er auf Flohmärkten findet. Später besucht er die Georgia State University in Atlanta. Nebenbei arbeitet er als Kartenabreißer in einem Kino und lernt dabei April Gambill kennen. Sie stammt aus Henderson in North Carolina, das mit etwas über fünfzehntausend Bewohnern immerhin eine Kleinstadt in einem ansonsten durch und durch ländlichen Raum ist. Die beiden werden 1999 ein Paar, doch Lance meint, es sei schwierig für ihn, eine Beziehung einzugehen, „er stecke da gerade in einem Projekt, das wohl seine gesamte Zeit beanspruchen würde“ – eine Kompilation seltener Songs aus der Vorkriegszeit, die er auf CD herausbringen will. April ist tief verletzt, dass er sie nicht um ihre Mitarbeit bittet. Sie muss ihn schließlich selbst danach fragen, er hätte sich nie getraut.
Zwei Jahre zuvor hatte sich Ledbetter aus Neugier die soeben auf CD erschienene Gesamtausgabe der Anthology Of American Folk Music von Harry Smith gekauft, es waren sechs CDs in einem Pappschuber. Smith war Filmemacher und Sammler von Schellacks, der damit bereits in den Dreißigerjahren angefangen hatte. Für das kleine Folkways-Label stellte er in den Fünfzigern aus seiner umfangreichen Sammlung besagte Anthologie zusammen. Sie bestand aus Musik des ländlichen Amerika, die vor dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht worden, doch zum Zeitpunkt der Neuherausgabe bereits in Vergessenheit geraten war. Lance Ledbetter war überwältigt von diesen Songs. Über Monate hörte er nichts anderes. Sogar in seiner Uniradio-Indierocksendung spielte er die Sachen. Für ihn definierte sie plötzlich den Begriff Undergroundmusik vollkommen neu. Er fand noch ein paar Vinylsampler mit ähnlichem Material, von dem einiges aus der Sammlung Joe Bussards stammte. Im Internet wird von Bussard behauptet, er hätte „sogar Sachen, von denen nicht einmal Gott etwas gehört hat“. Ledbetter fand seine Telefonnummer und rief ihn an. Bussard erzählte ihm begeistert eine Stunde lang seine Geschichten. Der Schellackveteran mochte den jungen Anrufer, der nicht einmal zwei Sätze hatte sagen können, und erklärte sich bereit, ihm die tollsten Stücke seiner Sammlung auf Kassette zu überspielen. Für 50 Cent pro Song. Ledbetter spielte jeden davon in seiner Radiosendung.

... mehr im Heft.